Was ist eigentlich „authentischer“ Argentinischer Tango?
Um die Jahrtausendwende als Chantal und ich anfingen Tango zu tanzen, sprach noch niemand von „traditionellem“ Tango. Damals suchten wir den „authentischen Tango“, ein geheimnisvolles Geschöpf, welches sich nach Aussage von Zeuginnen auftrat, sobald man von einem Argentinier zum Tanz aufgefordert wurde. Authentischer Tango war wundervoll und nicht zu beschreiben.
Klar schien nur, dass er die folgenden Eigenschaften hatte, auch bei Showtänzen:
- Alles ist improvisiert
- Alles ist geführt
- Folgende mussten deshalb nichts können
- Geführt wurde mit dem Brustbein
Außerdem
- Ging es beim Tango überhaupt nicht darum, wie es aussieht, sondern nur darum, wie es sich anfühlt!
- Tango ist kein Standardtanz. Er ist individuell und frei. Menschen tanzen unterschiedlich und wie es ihnen gefällt und entspricht!
Für mich war es diese Individualität, die mich beim Tango hielt. Ich wollte niemanden imitieren, sondern entdecken, neues ausprobieren, meinen eigenen Weg gehen, schöpferisch sein. Authentisch.
So fahndeten wir irgendwie alle nach dem authentischen Tango, hofften, vielleicht irgendwann selbst einmal authentisch zu tanzen. Erschwert wurde ddie Recherche durch mangelnde Dokumentation. Ich erinnere mich an einen Auftritt von Fabian Salas in Amsterdam, der sich um fast eine Stunde verzögerte, weil Fabian noch immer befürchtete, dass jemand heimlich eine Kamera auf ihn richtete. Sogar die Tanzszenen in „Tango Lesson“, dem Tangofilm der 90er überhaupt, sind fast alle so geschnitten, dass man nichts versteht.
Besuchte man damals Workshops, ging es tatsächlich um Sequenzen. Über Bewegungsqualität oder Verbindung wurde nicht viel gesprochen.
Es gab auch Zweifel:
- Zum Beispiel waren doch alle Argentinier (außer den 50% Afrikanern, aber von denen wusste damals niemand etwas) noch vor Kurzem Europäer gewesen. Italiener. Konnten Italiener dann wohl auch authentisch tanzen? Oder halbauthentisch wegen der südlichen Mentalität?
- Warum tanzen acuh die Argentinier nicht immer eng? Ist das überhaupt auch authentisch? Authentischer Neotango?
- Oder es geht es doch um etwas ganz anderes?
Dann kam Youtube. Mit den Videos wurde klar, dass tatsächlich alle sehr unterschiedlich tanzten. Von Paar zu Paar unterschied sich alles: Schritte, Umarmung, Haltung, Musikalität.
In den Jahren zwischen 2000 und 2006 wurde die Suche nach dem authentischen Tango dann weniger wichtig. Es war die Zeit des Neotango und die Vorstellungen davon, was Tango alles sein kann, erweiterten sich täglich. Menschen wie Lucia Mazer und Chicho Frumboli wurden bewundert, weil sie sich am radikalsten von allen anderen unterschieden, die meisten und verrücktesten neuen Schritte tanzten.
Ungefähr ab 2005 wurde dann der „Traditionelle Tango“ immer wichtiger. „Traditionell“ klingt auch nach authentisch, der „traditionelle Tango“ ist allerdings nicht so schwer greifbar, denn man kann ihn lernen, er hat klare Regeln.
Das große rote Buch
Seit ich Chantal kenne steht in ihrem Bücherregal ein großes rotes Buch: „Así bailaban el TANGO“ von Gabriela Hanna. Mir war es immer zu groß und zu rot, es sah nach Klischee aus. Was für eine Überraschung, als ich das Buch vor zwei Jahren dann doch einmal öffnete – und in einem Zug durchlas!
„Así bailaban el TANGO“ ist eine großartige Dokumentation. Sie enthält Gespräche mit professionellen Tangotanzenden aus den 30er bis 80er Jahren, veröffentlicht 1993. Hier einige Ausschnitte und Zitate
Carmen Calderon
Erste Interviewpartnerin ist Camencita Calderon, die bereits in den 30er Jahren mit dem Tango auf den Bühnen von BuenosAires stand. Sie erzählt von ihren vielen Tanzpartnern, erinnert sich daran, dass jeder von ihnen einen ganz eigenen Stil hatte, besondere Bewegungen, die nur er in einer einmaligen Qualität tanzen konnte. Und die andere zu imitieren versuchten.
Weiter geht es mit Jorge Márquez, „Berufstänzer Jahrgang 1908“. Wie für Calderon gibt es auch für ihn einen großen Unterschied zwischen dem Tango der Salons und seinem eigenen Tango:
[…] Jeden Monat geschah etwas anderes, denn ich produzierte laufend neue Dinge. Der Tango war für mich immer etwas heiteres. Es tat mir weh, wenn sie aus dem Tango etwas Trauriges machen wollten. Deshalb hatte ich einen heiteren Stil.
[…] Damals begann ich, in die Salons zu gehen. Da waren Salons der Italiener, der Türken .. Und da waren alles nur Italiener, Türken… Und ich war da mit einem Mädchen. Weil ich mit dem Mädchen einige besondere Dinge machte, warfen sie mich raus. Früher trugen die Frauen in den Salons lange Röcke und die Männer hatten Taschentücher und hielten sie zwischen die verschränkten Hände der Tänzer, und sie tanzten Nase an Nase. Das gefiel mir aber nicht. Es waren zwar Argentinier, aber die Söhne von Italienern, Spaniern, Franzosen … Sie waren anders, sie wollten es dezent haben. Sie sagten, es sei schlecht, wenn einer die Füße vom Boden hebt […] wenn er die Frau so losläßt, daß er einen Arm freigibt, sie von seinem Körper entfernt und wieder heranzieht.
[…] als ich anfing zu tanzen, tanzte ich mit den Frauen eng zusammen. Später sagte ich mir: Wenn ich das immer so mache, kann die Frau nicht gut tanzen, sie bleibt angebunden. […] Also ehrlich gesagt möchte ich nicht, dass wir beide beim Tanzen einschlafen. Ich will, dass sich etwas entfaltet und irgendetwas macht.
Márquez ging lieber in die Nachbarschaftsclubs der Barrios:
[…] Ich ging immer dahin, wo es Frauen gab, die sehr gut tanzten. In den Stadtviertel-Clubs gefiel es mir. Ich zahlte wenig Eintritt, brachte eine Frau zum Tanzen mit und konnte einfach alles machen. Deswegen gefiel mir der Tango. Ich erfand Schritte und Bewegungen […] Alle, die behaupten, sie seien Tangolehrer – alles Lüge. Ich möchte erstmal einen Lehrer sehen! Alle tanzen sie so, mit gestreckten Beinen. Sieh mal da, auf dem Foto, wie sie das Bein beugt. Wenn sie das Bein anspannt, klappt’s nicht. Das kann ich schon von weitem sehen.
Carlos Alberto Estévez „Petroleo“ – Jahrgang 1912
Petroleo war der Mittelpunkt der ersten bekannten Gruppe von Tanzenden, die systematisch versuchten, die Möglichkeiten des Tangos zu erforschen.
[…] Ich hatte das Glück zu einer Gruppe von Männern zu gehören, die die Veränderung des Tangos ermöglichten
[…] Sechzig Jahre war ich jede Nacht auf der Milonga. In der ersten Phase des Tango war der Sinn und Zweck des Tanzes der Sex. Man hielt die Frauen umarmt. Später kamen die Farbigen und veränderten die Haltung; sie legten die rechte Hand auf die Hüften. Um 1900 veränderten ihn die Vorstädter, sie lachten über die Schwarzen. […] Die Vorstädter begannen, Ochos zu machen, Sentadas, Corridas, Picadas: die ersten Figuren. Einige Corridas übernahmen sie von den Schwarzen. […] Noch immer herrschte der Sex. […] Ich war es, der die Art, als Paar zu tanzen, umgestaltet hat. Ich erfand die besonderen Dinge im Tango. Das war tatsächlich sensationell. Ich löste den Sex aus dem Tanz heraus.
Pepito Avellaneda – Jahrgang 1923
[…] ich ging mich verkleidet auf dem Karneval vergnügen. Da war ich zwölf Jahre alt und hatte den Mut gefaßt, ein Mädchen zum Tanzen zu holen. […] Ich wollte sie nur auffordern und dann stehen lassen, indem ich ihr sagte „Ich kann gar nicht tanzen.“ Aber plötzlich begegnete ich einem Mädchen, das mir gefiel. Ich stand auf zum Tanzen, und ich machte einen Schritt, einen weiteren Schritt und sagte zu ihr: „Schau mal, ich kann’s ein bischen, nicht wahr?“ […] Dann machte ich weiter. Ich erfand etwas. Beim Tanzen erfindet man immer etwas. Sogar heute noch. Man tanzt, man tanzt und erfindet. Aber ich tanze „von innen heraus“.
Durch alle Interviews des Buches zieht sich die große Wertschätzung für Kreativität, Innovation, für den Mut neu und unkonventionell zu tanzen, wie ein roter Faden. Gleichzeitig wird in allen Epochen erwähnt, dass es Menschen gab, welche die Jugend und ihre Neuerungen lieber aus dem Tango ausschließen wollten. Aber die berühmten Tänzerinnen und Tänzer waren stets die schöpferischen Menschen, die „Tangogeschichte geschrieben“ haben.
„Así bailaban el TANGO“ zeigt, dass neben Eleganz, Perfektion und Rollenspiel immer auch die Suche nach dem Tango, seinem Wesen, seinen Möglichkeiten ein Teil seiner Tradition ist.
Es ermutigt uns, im Tanz unseren eigenen Weg zu gehen und von Zeit zu Zeit über das Bekannte hinauszuwachsen.